Transkript Folge 17 „Kowall redet Tacheles“
Putins Armee hat am 24. Februar 2022 tatsächlich die Ukraine überfallen. Während dieses Video aufgezeichnet wird, ist Kiew noch unter ukrainischer Kontrolle. Auf beiden Seiten gibt es bereits tausende Tote. Mutige Menschen demonstrieren in russischen Städten gegen Putins Krieg. Was ist in Russland schief gegangen und was im Verhältnis zum Westen?
Reden wir einmal Tacheles!
Es ist ein alter Traum vom europäischen Frieden. Ein Traum, der bei den Menschen in Europa wohl auf deutlich mehr Sympathie stößt als die Nordatlantische Allianz NATO. Europa soll bündnisfrei sein und keinerlei ausländische militärische Präsenz mehr auf seinem Gebiet dulden. Statt nationaler Armeen soll es eine gemeinsame Verteidigung geben: schlank, schlagfertig und höchst defensiv ausgerichtet. Dieses Europa soll in allen systemrelevanten Bereichen wie Energie, Nahrung oder Medizin unabhängig sein vom außereuropäischen Ausland. Zu den EU-Anrainerstaaten gäbe es privilegierte Handelspartnerschaften. Russland ist der größte und wichtigste Nachbar und mit Moskau würde man – sowie wie mit Washington – militärische und nachrichtendienstliche Informationen teilen. Russland wäre insgesamt der engste Partner Europas und das würde für beide Seiten die Abhängigkeit von den USA und China stark vermindern.
Und wieso keine stärkere Anbindung an die USA? Weil die US-Außenpolitik über Jahrzehnte eine einzige Katastrophe war. Die USA initiierte Militärputsche gegen demokratisch gewählte Linksregierungen in Südamerika und half bei der Installierung von folternden und mordenden Militärdiktaturen. Die USA bewaffnete und finanzierte einst die Mudschahedin in Afghanistan, aus denen später die Taliban erwuchsen. Die USA führten zwei Irakfeldzüge, die beide auf gefälschtem Beweismaterial beruhten. Die USA haben die Bedingungen für den Terrorismus, den sie in einem jahrelangen Krieg gegen den Terror bekämpften, überhaupt erst geschaffen. Der befreite Irak wurde etwa zum Aufmarschgebiet des Islamischen Staates. Ich möchte als Europäer auf keinen Fall mit der Außenpolitik der USA in Verbindung gebracht werden, schon alleine nicht um als Terrorzielschiebe herumzurennen. Darum gehörte ich im Jahr 2003 zu all jenen, die froh über die Achse Paris-Berlin-Moskau waren, die sich gegen den Irakkrieg des US-Präsidenten Bush stellte.
Genau aus diesen Gründen war ich auch nie ein Befürworter der NATO. Ist man mit den USA in einem Militärbündnis, dann wird man auch für alle Aktivitäten die die USA ohne NATO machen verantwortlich gemacht. Viele sagen: Als die Sowjetunion 1991 aufgelöst wurde, hätte die NATO auch aufgelöst werden sollen. Es kam nicht dazu, stattdessen wurde das Bündnis nach Osten erweitert. Also noch mehr amerikanischer Einfluss in Europa. Darüber habe ich mich immer sehr geärgert.
Aber um die USA aus Europa rauszuhalten muss eine von zwei Bedingungen erfüllt sein: Erstens, Die EU verfügt über eine eigene wirksame Verteidigungsarchitektur. Das ist nicht der Fall und die Schritte in diese Richtung sind furchtbar lahm. Zweitens: Die wichtigsten Nachbarländer – in unserem Fall die Türkei aber vor allem Russland – sind beides stabile Demokratien. Nur dann ist man wirklich sicher weil noch nie haben zwei gefestigte Demokratien gegeneinander Krieg geführt.
Mein Ärger über die NATO-Präsenz hat sich in den letzten Jahren relativiert. Nicht weil ich meine Meinung geändert habe, sondern weil sich die politische Situation in Europa verändert hat. Mein Ärger wich der Angst, aber nicht vor den USA, sondern vor Putins Russland.
Russland
Russland hat sich von einer gefestigen Demokratie immer weiter entfernt. Das sehen wir schon daran, dass Putin seit 22 Jahren an der Macht ist. Hätte im Jahr 2008 ein ordnungsgemäßer Machtwechsel stattgefunden, so wie es die russische Verfassung vorsah, hätte Putin niemals die diktatorische Macht erlangen können, die er heute innehat. Das ist genau der Grund, weshalb wir in der Demokratie Amtszeiten begrenzen. Weil die Machtfülle der Machthaber sonst permanent ansteigt, während ihre Zurechnungsfähigkeit parallel abnimmt. Selbiges beobachten wir übrigens beim türkischen Präsidenten Erdogan. Und was machen große Egos, die ihre Zurechnungsfähigkeit verlieren? Sie versteigen sich in Großmachtpläne aus der glorreichen Vergangenheit. Erdogan träumt davon Teile des osmanischen Reichs wieder erstehen zu lassen. Putin hat das Ende der Sowjetunion als größte geopolitische Katstrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet und möchte die alte Einflusssphäre nun mit militärischer Gewalt wiederherstellen.
Die Gewalt nach Außen ist aber nicht minder erschreckend wie die inneren Zustände Russlands. Das beginnt schon bei Putins Werdegang. Rund um ihn hat eine KGB-Clique mit Verbindungen zur Mafia in den 1990er-Jahren ein Netzwerk aus Scheinunternehmen und Offshorekonten aufgebaut und zig Millionen Steuergeld abgezweigt. Putins Weg säumen Einschüchterungen, Erpressungen, Verhaftungen, Auftragsmorde und mysteriöse Verkehrsunfälle. Nachdem Putin im Jahr 2000 durch manipulierte Wahlen Präsident wurde, hat seine Clique die berühmten Oligarchen entweder ausgeschaltet, oder unter ihre Kontrolle gebracht. Seitdem ist die gesamte ökonomische Macht Russlands bei Putins Leuten konzentriert.
Anstelle von Rechtsstaatlichkeit herrscht systemimmanente Korruption. Politiker und Beamte müssen sich um Gesetze nicht scheren, solange sie nach oben loyal sind. Das ist die berühmte Kleptokratie, also eine Herrschaftsform wo die Herrschenden willkürliche Verfügungsgewalt über Besitz und Einkünfte der Beherrschten haben. Die Korruption wirkt sich ganz negativ auf die ganze Wirtschaft aus. Trotz des unglaublichen Reichtums an Bodenschätzen sind die Einkommen in Russland nur halb so hoch wie in Österreich. Gleichzeitig ist die Verteilung der Einkommen so ungleich wie in den USA. Cirka ein Drittel der Bevölkerung lebt in Armut.
Aber nicht nur die soziale Situation ist prekär. Russland hat mittlerweile eine Ein-Mann-Herrschaft. Alle zugelassenen Parteien unterstützen den Kurs des Kremls. Eine tatsächliche Opposition ist längst brutal zerschlagen. Im Jahr 2015 wurde der Oppositionelle Boris Nemzow ermordet, vorletztes Jahr wurde ein Giftanschlag auf Alexei Nawalny verübt. Schon früh in Putins Amtszeit wurden die Medien zu staatlichen Propagandamaschinen. Unabhängige Journalistinnen werden verfolgt oder ermordet, sowie Anna Politkowskaja im Jahr 2006. Die Unterdrückung unabhängiger Medien ist wiederum eng verbunden mit dem Thema Korruption. Korruptionsbekämpfung geht ja nur mit Transparenz und Öffentlichkeit, im Dunklen aber gedeiht sie.
Zivilgesellschaftliches Leben abseits staatlicher Ordnung ist Putin suspekt, NGOs wie Amnesty International sind für ihn ausländische Agenten. Kürzlich wurde die älteste und bekannteste russische NGO namens Memorial aufgelöst. Sie hatte sich der Aufarbeitung der Verbrechen unter Sowjet-Herrscher Josef Stalin verschrieben. Putin versucht überhaupt die Geschichte umzuschreiben und spielt die Rolle des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 herunter, also die Vereinbarung zwischen Nazi-Deutschlands und der Sowjetunion Polen unter sich aufzuteilen.

Chronisch ineffiziente und korrupte Wirtschaft, Ein-Mann-Herrschaft, Unterdrückung und Verfolgung von Opposition, unabhängigen Medien und Zivilgesellschaft und es gibt sogar wieder Schauprozesse. Wir haben hier etliche Ähnlichkeiten zur alten Sowjetunion: Das ganze aber garniert mit Raubtier-Kapitalismus anstelle mit kommunistischer Planwirtschaft.
Doch es gibt in Putins Russland einen ideologischen Ersatz für den Kommunismus und das ist die russisch-orthodoxe Kirche. Die hat praktischerweise das Konzept der russischen Welt entwickelt, das über die Grenzen des Landes hinausstrahlen soll. Putin und Patriarch Kyrill betonen im Einklang die Einheit von russischer Kultur und orthodoxem Glauben. Damit schließen beide die Ukraine mit ein, weshalb der Patriarch aktuell auch von „dunklen und feindlichen äußeren Kräften“ spricht die die Einheit „unserer gemeinsamen historischen Heimat“ gefährden. Im ganzen Land werden Prestige-Kathedralen gebaut, bisher alleine 60 in Moskau. Auch die Armee pflegt ein enges Verhältnis zur Kirche. Vor zwei Jahren wurde die Hauptkirche der Streitkräfte Russlands eingeweiht.
Aber der Gleichschritt zwischen Staat und Kirche geht weit über national-patriotische Töne hinaus. Es geht vielmehr um ein spirituelles Problem mit dem Westen, wie es ein russischer Erzpriester ausdrückt. Und bei Putin hört sich das so an „Viele euro-atlantische Länder haben sich von ihren Wurzeln und damit auch von ihren christlichen Werten losgesagt. […] Das ist der direkte Weg zum Verfall.“ Im Kern ist die Story dieser Leute folgende: Der Westen sei völlig dekadent (gemeint ist tolerant) und habe durch Feminismus und „Homopropaganda“ die Kleinfamilie zerstört. Statt Männlichkeit gibt es Verweichlichung und Veganismus. Europa sei komplett überfremdet, vorwiegend durch muslimische Zuwanderung. Vorantreiben würden das alles suspekte jüdische Persönlichkeiten wie der Finanzinvestor George Soros. Putins Haus- und Hofdichter, Viktor Jerofejew, drückt es so aus: Europa sei zu weibisch, zu schwul, zu multikulturell.
Aufschlussreich ist auch die Gedankenwelt von Wladimir Schirinowski, dem Gründer einer rechtsextremen und kremlloyalen Partei in Russland. Seine Weltsicht zu Zeiten von Angela Merkel und Barack Obama lässt sich gut illustrieren an der Beschwerde, dass „jetzt ein Weib das Dritte Reich führt und auf den Straßen Berlins Schwule anstatt Soldaten marschieren. Die Juden besitzen alle Banken und Zeitungen und die ganze Posse lenkt ein N-Wort aus Amerika“. Schirinowski wurden vom Putin-Regime übrigens die Vaterländischen Verdienstorden erster und zweiter Klasse verliehen.
In Moskau sind sehr simpel gestrickte Gemüter an der Macht denen die schneidige Männlichkeit der Nazis tief imponiert. Darum auch Putins Führerkult und seine faschistische Bildsprache. Es ist klar, dass solche Leute das heutige demokratische und liberale Europa mit jeder Faser ihres Körpers ablehnen. Putin hat seine rechtsradikalen Botschaften in der ganzen Welt verbreiten lassen, nicht zuletzt über russische Trollfabriken. Millionen von bots haben sowohl während der Flüchtlingskrise von 2015, als auch während der Coronakrise die Ängste der Leute befeuert. Hauptziel dieser Destabilisierung anderer Staaten im KGB-Stil war Deutschland.
Das Sendungsbewusstsein Putins ist um nichts geringer als zu besten Sowjet-Zeiten. Er hat erkannt, dass sein Themensetting eine win-win Situation für ihn bietet: Er kann damit im konservativen russischen Hinterland punkten und ideologische Ressentiments gegen den Westen in der eigenen Bevölkerung schüren. Gleichzeitig kann er Bruchlinien innerhalb des Westens vertiefen: Von Homophobie über Anti-Feminismus bis Fremdenfeindlichkeit – also die gesamte Palette globaler rechter Identitätspolitik. Deshalb finanziert Putin rechtspopulistische Parteien in der EU und mischte bei Trumps Wahlsieg mit. Uns muss klar sein: Putin ist kein Nutznießer der globalen rechten Welle, er ist einer ihrer Kreatoren.
Globalisierung
Wieso wurde nicht schon viel früher gegen Putin vorgegangen? Wieso wird nichts gegen China unternommen, obwohl das Land Taiwan bedroht, Hongkongs Demokratie zerquetscht und Umerziehungslager für Uiguren betreibt? Wieso müssen wir uns mit Saudi-Arabien gut stellen, obwohl Bürger- und Frauenrechte kaum wo auf der Welt ärger unterdrückt werden?
Die Antwort darauf ist bestechend einfach: Es ist die wirtschaftliche Globalisierung. Die größte Stärke des Kapitalismus ist auch seine größte Schwäche: Er muss immer wachsen. Und dort, wo schon viel Wohlstand herrscht, wächst er verhältnismäßig langsam. Aber dort, wo noch wenig Wohlstand herrscht, kann er sehr schnell wachsen. Russland und China wuchsen in den 2000er-Jahren rasant. Was für eine Gelegenheit für etliche westliche Unternehmen und mittendrin statt nur dabei die österreichischen Banken.
Noch vor 15 Jahren hat man im Westen gedacht, Marktwirtschaft und Demokratie hätten gesiegt, Planwirtschaft und Diktatur hätten verloren. Das Ende der Geschichte, wie es ein amerikanischer Politologe ausdrückte. Das Problem ist nur folgendes: Es stimmt, dass es noch nie eine Demokratie ohne Marktwirtschaft gab. Aber umgekehrt kann die Marktwirtschaft sehr gut ohne Demokratie. Der Kapitalismus funktioniert sogar mit einer Ein-Parteien-Regierung wie in China, die sich selbst kommunistisch nennt, exzellent. Im Westen dachte man, erst exportiert man die Marktwirtschaft und dann wird sich eine Demokratisierung einstellen. Wir exportieren sozusagen unsere Werte mit unserem Kapital. Nun sehen wir aber zunehmend, dass diese Rechnung überhaupt nicht aufgeht. Wir haben zwar Kapital und Technologie exportiert, aber nicht Rechtsstaat, Demokratie und Gewaltenteilung. In Russland und Brasilien, auf den Philippinen und in der Türkei ist die Demokratie längst auf dem Rückzug. In China konnte sie gar nicht erst entstehen. Doch solange der Rubel rollte, interessierten sich Geschäftsleute nicht für Politik. Die österreichische Außenpolitik übrigens auch nicht, sie machte Geschäfteanbahnung gleich zu ihrer Haupttätigkeit.
Vor einigen Jahren hat sich die Richtung sogar umgedreht: Wir exportieren nicht nur keine Demokratie, wir importieren obendrein autoritäres Gedankengut. Davon entsteht bei uns schon so genug, aber die ideologischen Importe aus den russischen Trollfabriken gießen nochmal Öl ins Feuer. In einer sozial und politisch verwüsteten Gesellschaft wie den USA brachte diese Gemengelange sogar einen Donald Trump ins Präsidentenamt. Verschwörungstheorien, Flüchtlingsparanoia und Anti-EU-Ressentiments sind wichtige Zutaten dieses Gift-Cocktails. Und der Meisterkoch dieser Giftküche ist der Kreml in Moskau. Jetzt, wo wir endlich reagieren, müssen wir mühselig und langwierig das gesamte ideologische und finanzielle Gift, mit dem wir uns selbst korrumpiert haben, wieder aus unseren Gesellschaften extrahieren. Wir kappen Geschäftsverbindungen, spüren Offshorekonten auf, schalten russische Propagandasender ab und kündigen Verträge mit russischen Sponsoren.
Mit dem Ende der Sowjetunion war der Weg frei für eine hemmungslose Globalisierung, mit der es viel mehr zu verdienen gab als zu Hause. Das hat unsere Abhängigkeit von den Weltmärkten extrem erhöht. Und damit stecken hinter unseren wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland, China, der Türkei, Saudi Arabien und sonstigen Ländern mit unsympathischen Regierungen handfeste westliche Geschäftsinteressen. Diese Business-Korruption hat die außenpolitische Handlungsfähigkeit gegenüber Russland 20 Jahre völlig gelähmt. Die Globalisierung hat die Demokratie nicht in andere Länder exportiert. Nein, der globale Turbo-Kapitalismus hat unsere Demokratie verkauft.
Inwiefern ist überhaupt der Westen Schuld an der aktuellen Situation? Oft höre ich höre, dass man sich jetzt auf keine der beiden Seiten ziehen lassen soll. Mit der anderen Seite ist aber nicht die Ukraine gemeint, um die es eigentlich gehen sollte, sondern die NATO.
NATO
Inwiefern ist die NATO schuld an der aktuellen Eskalation? Dazu gibt es wiederum zwei völlig unterschiedliche Auffassungen. Die erste Geschichte geht so:
Die NATO verlor nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 ihren defensiven Charakter. Statt sich aufzulösen hat das Bündnis eine expansive Ostererweiterung begonnen und ist bis an Russlands Grenzen herangerückt. Damit wurde eine Drohkulisse aufgebaut. Das war kontraproduktiv in Bezug auf europäische Abrüstung, hat die Position der UNO erheblich geschwächt und Putin erst aufgescheucht. Tatsächlich erachteten in den 1990er-Jahren nicht wenige US-Sicherheitsexperten die NATO-Osterweiterung als großen Fehler. Ein prominenter Vertreter prognostizierte nationalistische, antiwestliche und militaristische Tendenzen in Russland.

Die zweite Story hört sich doch sehr anders an: Putins Vorgänger Boris Jelzin erklärte den NATO-Beitritt Russlands 1991 zu einem langfristigen politischen Ziel. Selbst als Angela Merkel Putin 2002 besuchte, also mitten während der NATO-Osterweiterung, war der NATO-Beitritt Russlands noch Thema. Putin habe später aus ganz anderen Motiven das NATO-Schreckgespenst riesig aufgeblasen. Sein Mantra von der NATO-Einkreisung sei falsch, Russland grenzt kaum an die NATO. Die letzte NATO-Erweiterung an Russlands Grenzen erfolgte außerdem vor 16 Jahren. Also wieso sich dauernd Sorgen um die Sicherheitsinteressen der zweitgrößten Atommacht der Welt machen, die ohnedies nie jemand angreifen würde?

Diese beiden Geschichten geben eine völlig unterschiedliche Antwort auf die gleiche Frage: Hätte sich die Politik des Systems Putins ohne NATO-Erweiterung irgendwie anders dargestellt? Das zu beurteilen ist schwierig. Was wir aber sicher wissen ist, dass Putin äußere Feindbilder auch zur Stabilisierung seiner Macht im Inneren braucht. Er versucht von anderen Dingen abzulenken. Etwa vom hohen Lebensstandard in den neuen EU-Mitgliedsländern, die eine viel größere wirtschaftliche Erfolgsstory darstellen als Russland. Oder von demokratischen Bestrebungen rund um Russland, die seine, mittlerweile muss man sagen Diktatur, in Frage stellen würden. Eine Ukraine, die sich demokratisch stabilisiert und wirtschaftlich Richtung Polen aufholt, wäre für Putin ein unangenehmes role model.

Aber der Clou ist: All das erklärt die Geschichte aus der Sicht Moskaus.
Osteuropa
Wechseln wir einmal die Perspektive und betrachten die Lage aus der Sicht der Osteuropäerinnen. Aus der Sicht von Staaten, deren leidvolle Erfahrung mit dem Imperialismus Moskaus schon lange zurückreicht. Etwa die Besetzung Ostpolens 1939 oder der Ungarnaufstand 1956 und der Prager Frühling 1968, die beide von sowjetischen Panzern überrollt wurden.
Aus der Sicht Osteuropas lief die NATO-Erweiterung cirka so ab. Polen, Ungarn und die damalige Tschechoslowakei, also die Visegrád-Gruppe, wollten Anfang der 90er gemeinsam EU und NATO beitreten. Die NATO bremste, man einigte sich auf eine Reihe von Reformen die zuvor erfüllt werden müssen. 1994 kam es jedoch zu russischen Militäraktionen im ersten Tschetschenienkrieg. Das hat die osteuropäischen Länder natürlich hochgradig getriggert. Die Visegrád-Gruppe machte Druck bezüglich des NATO-Beitritts. Politische Parteien, die eine NATO-Mitgliedschaft ablehnten, wurden in Bulgarien und der Slowakei abgewählt. In einem Referendum in Ungarn sprachen sich 85 Prozent für eine NATO-Mitgliedschaft aus. 1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn der NATO bei.
Im Jahr 2004 konnten dann folgende Staaten ihren Mitgliedswunsch verwirklichen: Slowenien, wo ein Jahr zuvor zwei Drittel der Bevölkerung für den Beitritt zur NATO stimmten, sowie die Slowakei, Bulgarien, Rumänien, und die baltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen. Die baltischen Staaten erlangten nach der russischen Revolution vor rund 100 Jahren kurz ihre Unabhängigkeit, wurden als Folge des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 aber von der roten Armee annektiert und blieben bis 1991 sowjetisch. Umso mehr drängten sie auf das offene Zeitfenster, um der NATO beitreten zu können. Die Ukraine wiederum hat 1994 freiwillig auf noch bei ihr stationierten sowjetischen Atomwaffen verzichtet. Im Gegenzug hat Russland die Souveränität der ukrainischen Grenzen garantiert. Das Land wollte 2008 der NATO beitreten, das wurde aber aus Rücksicht auf Russland verhindert.
Ja, die NATO hat umstrittene Einsätze in Jugoslawien und Libyen durchgeführt. Aber ob die letztlich gerechtfertigt waren oder nicht ist überhaupt nicht einfach zu klären. Eine Bosniakin aus Sarajevo oder ein Libyer aus Benghasi werden das sehr anders sehen als so mancher stramme Anti-Imperialist in Westeuropa. Ob jemand aus westeuropäischer Perspektive – inklusive meiner – die NATO gut findet, interessiert hier nicht. Aus Sicht ihrer osteuropäischen Mitglieder ist die NATO ein schützendes Dach. In Osteuropa leben insgesamt 175 Millionen Menschen, also deutlich mehr als in ganz Russland. Mir ist klar, dass diese Länder für viele Westeuropärer:innen eine gesichtslose Zone sind. Eine total überhebliche und chauvinistische Geisteshaltung.

Ich bin immer noch gegen einen NATO-Beitritts Österreichs und für das Ende der amerikanischen Militärpräsenz in Europa. Aber so lange sich Polen und Letten vor Russland fürchten, werden wir die USA nicht loswerden. Dafür brauchen wir ein demokratisches Russland ohne Putin.
Was tun?
Was also im aktuellen Ukrainekonflikt tun? Putin hat seine tieferliegenden Motive drei Tage vor der Invasion dargelegt. Er hat die Zusammengehörigkeit Russlands und der Ukraine völkisch und historisch begründet. Wir kennen das ja vom Modell der russischen Welt der orthodoxen Kirche. Die Sicherheitsinteressen erwiesen sich endgültig als vorgeschobenen, Putin hat sich selbst, um mit Lenin zu sprechen, als „großrussischen chauvinistische Bären“ demaskiert. Es gibt kein Szenario in dem Putin sein Gesicht wahren kann außer der Kontrolle über die Ukraine. Was soll man so jemandem in Verhandlungen anbieten?
Putin pokert mit diesem Krieg verdammt hoch und ist „all in“ gegangen. Die EU und der Westen sind etwas überraschend mitgegangen. Es geht jetzt um alles oder nichts. Aus Sicht des Westens geht es um einen Regimewechsel in Moskau. Aber bluten müssen dafür die Menschen in der Ukraine, aber auch die russischen Soldaten die sich ihre Situation ja nicht ausgesucht haben. Das ist das unfassbare moralische Dilemma: Der Westen hat zur Wahrung seiner Geschäftsinteressen 20 Jahre lang weggeschaut während Putin Russland in eine aggressive Diktatur verwandelt hat. Dafür müssen jetzt andere mit ihrem Leben bezahlen. Hätte man die Ukraine schon früher aufgerüstet, wäre ein Krieg aus Putins Sicht womöglich zu riskant geworden. Rüstet man die Ukraine aber jetzt im Krieg auf bedeutet das letztlich eine Verlängerung des Konflikts und damit auch mehr ukrainische Tote. Ich verstehe, dass es jetzt die moralische Verpflichtung gab die Ukraine akut militärisch zu unterstützen. Nur wie lange soll das gehen? Wochen? Monate? Jahre?
Selbst bei einem relativ günstigen Verlauf wird es am Ende zehntausende Tote geben. In diesem Szenario bleibt die militärische Widerstandskraft der Ukraine weiterhin überraschend stark und die Sanktionen wirken heftig. So könnte Putin binnen Wochen die Kontrolle über seinen Machtapparat verlieren und von innen gestürzt werden. Bei einem ungünstigen Verlauf gibt es hunderttausende Tote auf beiden Seiten. In diesem Szenario reichen die Sanktionen nicht aus um Putin zu destabilisieren. Die Invasion, verwandelt sich in einen jahrelangen blutigen Partisanenkrieg und es kommt zu furchtbaren Kriegsverbrechen.
Das einzige was wir für die Ukraine jetzt noch tun können ist das Regime Putin wirtschaftlich schnell und effektiv zu destabilisieren. Was sich hingegen erst langsam aufbaut geht mit Gewöhnungseffekten einher und stabilisiert Putin. Stattdessen muss der Schock für Moskau jetzt groß sein. Das Nervensystem jeder Wirtschaft ist ihr Finanzsektor. Eine Währungskrise tritt die Wirtschaft besonders hart. Die bisherigen westlichen Sanktionen sind schon sehr wirksam, der Rubel ist gleich am ersten Tag dramatisch eingebrochen. Die russische Zentralbank könnte dem Verfall mit ihren großen Währungsreserven entgegenwirken, aber auch das wird durch die Sanktionen stark blockiert.
Eine zweite Eskalationsstufe wäre ein Handelsembargo. Das deutsche Institut für Weltwirtschaft hat berechnet, dass die russische Wirtschaft sehr stark einbrechen würde, wenn der Westen von heute auf morgen kein russisches Gas und Öl mehr beziehen würde. Au der Perspektive Russlands ist die EU nämlich der größte Handelspartner. Aber umgekehrt treibt die EU mehr Handel mit der Schweiz als mit Russland. Das liegt daran, dass Putins Atommacht wirtschaftlich relativ schwach ist.
Die dritte und letzte Eskalationsstufe wäre ein Embargo gegen alle Unternehmen, die mit Russland Handel treiben, wie es die USA 2019 über den Iran verhängt hat. Dann müsste sich jedes chinesische oder brasilianische Unternehmen überlegen, ob es lieber mit Russland Geschäfte macht, oder mit dem Westen.
Es ist aus meiner Sicht falsch, dass man sich nicht auf eine Seite ziehen lassen soll. Es gibt in diesem Krieg eine richtige Seite der Geschichte und das ist jene der Ukraine. Ich denke der Westen sollte sofort alle Register ziehen und die maximale wirtschaftliche Destabilisierung Russlands herbeiführen. Aus einer solchen Verunsicherung könnten Risse im Machtapparat, Lecks im Mediensystem und Demonstrationen. Das ist die Chance die Menschen auf beiden Seiten jetzt noch haben, um aus einem großen Unheil kein katastrophales Desaster werden zu lassen.
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