Transkript Folge 01 „Kowall redet Tacheles“
Willkommen in der neuen Normalität: Masken tragen, Abstand halten und vor allem Home Office! Die Medien sind voll mit dem Thema:
· „Neuer Arbeitsminister Kocher: Permanentes Homeoffice wird Normalität“
· „Home Office in Österreich bereits die Regel, nicht Ausnahme.“
· „COVID-19 hat Österreich in ein Land der Home Offices verwandelt.“
Man könnte glauben die meisten Jobs passieren im Office und nur noch eine Minderheit der Arbeitskräfte arbeitet außerhalb vom Büro. Dazu passt eine Aussage des ehemaligen Wiener Bürgermeisters Michael Häupl: „Die Vertretung der Arbeiterklasse fällt mangels Arbeiterklasse aus.“ Auf Deutsch: Es gibt keine Arbeiter mehr.
Echt? Reden wir einmal Tacheles! INTRO
Im Jahr 2019 gab es in Österreich 1.770.000 Arbeiterinnen und Arbeiter.[1] Das war jeder dritte Erwerbstätige.[2] Und wieso, werden manche denken, gibt es bei Wahlen dann so wenige Arbeiterstimmen? Aus drei Gründen: Erstens zählen pensionierte Arbeiter zur Gruppe der Pensionisten. Zweitens haben viele Arbeiterinnen keine Staatsbürgerschaft[3] – in Wien z.B. darf jeder zweite Arbeiter gar nicht wählen.[4] Drittens gehen viele wahlberechtigte Arbeiterinnen nicht zur Wahl.[5] Das alles hat Michael Häupl zu seiner falschen Einschätzung verleitet.
Aber wir wissen jetzt: jeder Dritte ist Hackler im engeren Sinn. Die gehen einmal fix nicht ins Home Office. Doch wie viele von den fünf Millionen Menschen, die 2019 in Österreich erwerbstätig waren, arbeiten überhaupt im Büro? Schauen wir dazu eimal in die Berufsgruppenzählung der Statistik Austria. Alle Quellen zu meinen Aussagen findet ihr übrigens unten in der Videobeschreibung.
· In Österreich sind 360.000 Menschen Hilfskräfte. Zum Beispiel Paketauslieferer, Reinigungspersonal, Essenszubereiterinnen beim Mäci, Hilfsarbeiter am Bau, oder Müllentsorgerinnen.
· Weitere 250.000 Menschen bedienen Maschinen, verrichten Montagearbeiten in der Industrie, oder steuern Fahrzeuge wie LKW, Bagger oder Busse.
· Über eine halbe Million Menschen fallen in die Gruppe handwerklicher Berufe, also Installateure, Schlosserinnen, Tischler, etc. Wenn von diesen ganzen Gruppen etliche zu Hause sind dann wegen Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit, aber nicht wegen Home Office.
· 150.000 Menschen arbeiten in der Landwirtschaft. Wenn sich unsere Lebensmittelproduzenten ins Home Office verabschieden dann können die Supermärkte beim Lockdown gleich mitmachen.
· Fast 800.000 Menschen umfasst die Gruppe der Dienstleistungsberufe. Dazu gehören Verkäuferinnen, Securities, Gastro-Personal und Friseure. Für die alle heißt Lockdown Home sitting statt Home office. Dazu gehören aber auch Feuerwehr, Polizei, Pflegekräfte, Schaffner, Helferinnen im Kindergarten, Tankwarte oder Kassiererinnen im Supermarkt. Berufe, wo wir uns alle schön anschauen würden, wenn sich die ins Home Office verabschieden.
· 260.000 Fachkräfte arbeiten im Gesundheitswesen, von der Chirurgin über den Apotheker bis zur Röntgenassistentin.
· Auch Kinderkartenpädagogen arbeiten vorwiegend nicht im Home Office. Und die 220.000 Lehrkräfte ja normalerweise auch nicht.
· Hinzu kommen zehntausende Sozialarbeiter, Technikerinnen im Außendienst oder in der Prozesssteuerung, Piloten oder Fitnesstrainerinnen.
· Weiteres gibt es in Landwirtschaft, Pflege oder Gastronomie[6] 200.000 Menschen die aus den Nachbarländern einpendeln.[7]
· Und dazu kommen nocheinmal ein paar hunderttauend heimische Saisonkräfte im Bau und im Fremdenverkehr, die viele Monate im Jahr arbeitslos sind und deshalb in der Statistik gar nicht aufscheinen.[8]
Unterm Strich kommt heraus, dass zwei von drei Erwerbstätigen vorwiegend nicht im Büro arbeiten. Österreich kann sich nicht in ein Land der Home Offices verwandeln weil – Achtung, bahnbrechende Erkenntnis: Irgendwer muss auch die andere Hacke machen!
Stellen wir uns eine Frau vor, die in den 90er-Jahren um die Ecke meines Elternhauses im niederösterreichischen Hainfeld, Hacklerin in einer Firma für Schlösser und Beschläge war. Sie heißt Tamara und hat in ihrer Bude Metalltechnikerin gelernt. Die Tamara wurde zwischendurch arbeitslos, umgeschult und arbeitet jetzt Teilzeit im Einzelhandel. Sie schlichtet im Lockdown Regale im Supermarkt. Hätte sie noch ihren alten Job in der Industrie, wäre sie im Lockdown auch nicht zu Hause, sondern würde an der CNC-Fräse stehen. Aus der Sicht von der Tamara hat das Thema Home Office nichts mir ihrer Lebensrealität zu tun.
Wieso also entsteht der Eindruck, dass der Bürojob die Normalität ist? Weil die Leute, die die öffentliche Meinung prägen, Bürojobs haben: Politik, Journalismus, Meinungsforschung, Interessensvertretung, Spitzenbeamte, Wissenschaft und Führungskräfte in der Wirtschaft haben allesamt Berufe, die sich Großteils vom Büro aus erledigen lassen. Diese Meinungsmacher haben beruflich meistens auch mit anderen Büromenschen zu tun. In der Regel wohnen sie auch in Stadtviertel, wo alle Nachbarn im Büro arbeiten. Und auch privat sind Spitzenbeamte kaum mit Kosmetikerinnen befreundet und Top-Journalistinnen fahren selten mit Staplerfahrern auf Urlaub.
Natürlich gibt es viel mehr Menschen, die im Büro monotone Tätigkeiten verrichten: Telefonisten, Sekretärinnen oder Klickarbeiter. So heißen Leute die digitale Fließbandarbeit machen. Knapp 40 Prozent aller Jobs sind Routinearbeiten[9] – da sind viele Bürotätigkeiten dabei. Das ändert aber nichts daran, dass fast alle Meinungsmacher im Büro sitzen. Das heißt, die einflussreichen Menschen für die das Büro normal ist, legen fest, was für ein Lebensmodell in der Gesellschaft als normal angesehen wird. Sie vergessen dabei auf die Mehrheit, die nicht im Büro arbeitet. Und das gar nicht absichtlich. Es ist nur so, dass ihnen die Lebensrealität anderer gesellschaftlicher Gruppen gar nicht bewusst ist. Das führt dazu, dass auf Ö3 an einem Freitag die Minuten gezählt werden, bis man endlich vom Büro ins Wochenende wechseln kann. Was denken sich da Ö3 Hörer in einer Mechanikerwerkstatt?
Auch Spitzenpolitiker ziehen völlig falsche Schlüsse wie die Aussage von Michael Häupl zeigt. Die SPÖ wurde vor 130 Jahren von Arbeitern gegründet. Da ist es schon ein starkes Stück wenn ein SPÖ-Politiker fälschlicherweise behauptet, dass es keine Hackler mehr gibt. Es zeigt uns genau das Problem auf: Denen, die die öffentliche Meinung in Österreich prägen, ist die Lebensrealität eines Durchschnitts-Haushalts gar nicht bewusst. Die Leute spüren es ohnehin schon lange: Wir leben in einer Zeit, in der die gewöhnlichen Menschen nicht mehr im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit stehen.
Wie es so weit gekommen ist, das werden wir beim nächsten Mal beleuchten.
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[1] Statistisches Handbuch der österreichischen Sozialversicherung – 2020
[2] Statistik Austria: Unselbständig Erwerbstätige nach beruflicher Stellung und Geschlecht seit 1994
[3] Statistik Austria: Beschäftigung von ausländischen Arbeitskräften
[4] Der Standard (21.9.2020): „Knapp jeder dritte Wiener darf nicht wählen“
[5] Peter Filzmaier (2007): „Ein unaufhaltbarer Sinkflug? Wahlbeteiligung in Österreich und anderswo“
[6] Statistik Austria: Registerbasierte Statistiken. Einpendlerinnen und Einpendler aus dem Ausland (2014)
[7] Statistik Austria: Einpendlerinnen und Einpendler aus dem Ausland 2018
[8] Falter (21/2019): „Wie bedeutend ist Saisonarbeit in Österreich, und welche regionalen Unterschiede gibt es?“
[9] Wirtschaftsforschungsinstitut (2016): Österreich im Wandel der Digitalisierung