Transkript Folge 20 „Kowall redet Tacheles“
Als ich 1988 in Niederösterreich in die Volksschule kam, hießen die Mädchen Claudia, Susi und Elisabeth, die Buben Thomas, Benjamin und Jürgen. Es gab kein einziges Kind mit ausländischen Wurzeln. Heute ist eine Bekannte von mir Lehrerin in einer Volksschule in St. Pölten. Die Kinder in ihrer Klasse haben elf Muttersprachen, nur eines davon Deutsch. Wie ist es dazu eigentlich gekommen?
Reden wir einmal Tacheles
Seit vielen Jahren ist Migration das beherrschende Wahlkampfthema in Österreich. Von Ausländerstopp bis Negativ-Zuwanderung reichte das Vokabular der FPÖ, um ihr Gift unter die Leute zu bekommen. Die rechte Propaganda versuchte immer folgendes Bild zu zeichnen: Österreich ist ein wohlhabendes Land in das ungebetene Gäste kommen, um von diesem Wohlstand zu profitieren. Deshalb müsse dieser Zuzug gestoppt werden. Die FPÖ macht uns also weis, dass Österreich die Zuwanderung niemals gebraucht hätte, sondern immer nur die Zuwanderer Österreich.
In Wirklichkeit hat Österreich Gastarbeiterabkommen abgeschlossen, 1964 mit der Türkei und 1966 mit Jugoslawien. Die Wirtschaft erlebte damals einen starken Aufschwung, die Arbeitskräfte wurden knapp und deshalb aktiv im Ausland angeworben. Aber auch nach dem großen wirtschaftlichen Aufschwung dieser Zeit fanden Migrantinnen Arbeit in Österreich und das seit Jahrzehnten. Der Grund dafür ist in der Bevölkerungsentwicklung innerhalb Österreichs zu suchen.
Damit sich eine Bevölkerung langfristig erhält, müssen pro Frau zwei Kinder auf die Welt kommen. Das ist in Österreich jedoch nicht der Fall, in den letzten Jahren waren es statistisch nicht einmal 1,5 Kinder pro Frau. Heute werden nur noch halb so viele Kinder geboren wie in den 1960er-Jahren. Die Jungen werden weniger, die alten leben länger: das sind die Zutaten für Überalterung.

Eine Frau bekommt in Österreich schon seit 1973 weniger als zwei Kinder. Die Bevölkerung erhält sich seit 50 Jahren nicht mehr selbst. Das heißt die Überalterung unserer Gesellschaft wäre ohne Zuwanderung seit 1973 in vollem Gange. Und jetzt schauen wir uns einmal an, wie sich die österreichische Bevölkerung theoretisch ohne Zuwanderung entwickelt hätte.
Wir hätten 1960 bei rund sieben Millionen Menschen gestartet und die Bevölkerung wäre erstmals auf 7,5 Millionen angewachsen. Aber eben nur bis Mitte der 1970er-Jahre. Ab dann hätte die Bevölkerung langsam abgenommen und läge heute bei 7,2 Millionen. Und jetzt vergleichen wir das mit der tatsächlichen Entwicklung von 1960 bis 2020. Die Bevölkerung ist mit Zuwanderung von ca. sieben Millionen auf ca. neun Millionen Menschen angestiegen.

Das große Problem ohne Zuwanderung wäre weniger der Rückgang der Bevölkerung, sondern vielmehr die Veränderung der Altersstruktur gewesen. Wir hätten ohne Zuwanderung heute sehr wenig junge Bevölkerung und sehr viele Pensionistinnen. Österreich wäre vollkommen überaltert. Außerdem gehen die geburtenstarken Babyboomer in den nächsten paar Jahren in Pension. Unsere Volkswirtschaft zu erhalten, die Sozialsysteme zu finanzieren und die Pensionen zu zahlen wäre dann eine deutlich größere Herausforderung.
Genau vor diesem Problem steht Japan. Das Land hat extrem strenge Zuwanderungsregelungen und ganz wenig Ausländerinnen. Deshalb schrumpft die japanische Bevölkerung um rund eine halbe Million Menschen pro Jahr. Die Folge ist eine starke Überalterung. Fast 30 Prozent der Menschen in Japan sind über 65 Jahre alt, in Österreich sind es aber keine 20 Prozent. Die Alterung der Bevölkerung geht bei uns viel langsamer vor sich. Weil unsere Geburtenrate aber kaum höher ist als in Japan, gibt es dafür nur eine Erklärung und das ist Zuwanderung. Der wichtigste und einfachste Grund für die Zuwanderung der letzten Jahrzehnte lautet: Die Migrantin oder der Migrant nimmt am heimischen Arbeitsmarkt den Platz einer Person ein, die nie geboren wurde.
Schauen wir uns die Arbeitswelt genauer an: In den 1970er-Jahren überholten die Angestellten die Arbeiter als größte Berufsgruppe. Der Trend zur höheren Ausbildung wurde immer stärker. Das heißt der Großvater hat in den 1960er-Jahren im steirischen Weiz Elektriker gelernt. Sein Sohn ist in den 1980er-Jahren auf die HTL Weiz gegangen und dann Elektrotechnik-Ingenieur geworden. Und dem seine Tochter, die Anna, studiert jetzt in Graz Informatik. Oder Slawistik und Kunstgeschichte. In ihrer Studenten-WG ist eine Sicherung durchgebrannt und sie braucht einen Elektriker. Der heißt Milan und ist der Sohn bosnischer Gastarbeiter. Und dem Milan seine Tochter heißt Maya und ist eine Studienkollegin von der Anna.
Migrantische Arbeitskräfte wurden deshalb angeworben, weil viele Österreicher andere Jobs antraten als ihre Eltern. Das führte in den 60er- und 70er-Jahren zu einer Diskussion, ob die Einheimischen die Knochenarbeit nicht mehr selbst machen möchten. Der soziale Aufstieg dieser Zeit wäre ohne Migration kaum möglich gewesen. Die Geschichte, dass die Zuwanderer Österreich mehr brauchen als umgekehrt ist falsch. Österreich hat die Zuwanderung gebraucht, sonst hätte sie gar nicht stattgefunden. Und ein erheblicher Teil des österreichischen Wohlstands beruht heute genau auf dieser Zuwanderung.
In Österreich leben mittlerweile über zwei Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Mein Sohn gehört dazu, weil seine Mutter eine in Österreich geborene kroatische Staatsbürgerin ist. An solchen Beispielen sieht man, die Einteilung verliert permanent an Aussagekraft. „Migrationshintergrund“ wird immer mehr von einem Begriff für die „Fremden“ zu einer Realität des Österreichs in dem wir heute leben. Zwei von drei Wiener Volksschulkindern haben nicht Deutsch als Muttersprache. Jeder vierte Erwerbstätige hat Migrationshintergrund. Ganze Sektoren in Industrie, Bau, Tourismus oder Gesundheitssystem würden ohne migrantische Arbeitskräfte zusammenbrechen.
Beim Migrationsthema kann man sich also politisch nicht für oder gegen Zuzug entscheiden, wie das die FPÖ darstellt. Der Zuzug ist längst passiert. Österreich ist heute eine extrem vielfältige Gesellschaft. Das ist vor allen in den Städten eine alltägliche Selbstverständlichkeit. Deshalb sollte man in der Politik aufhören so zu tun als könnte man etwas beeinflussen, das längst stattgefunden hat. Die wirklich wichtige Frage für die Zukunft Österreichs lautet, wie wir die Lebensqualität in unserer vielfältigen Gesellschaft erhalten und weiter ausbauen können.
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